Vor dem Bau der Siedlung Am Hagen

Um den Bau der Siedlung ab dem Jahr 1933, die ehemalige Namensgebung usw. zu verstehen, muss man die damalige Wirtschaftslage und die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen kennen.

Staatliches Siedlungsprogramm

1928 begann, von den USA ausgehend, eine schwere Weltwirtschaftskrise, von der Deutschland besonders betroffen war. In der Folge stieg z.B. im Jahr 1932 die Zahl der Arbeitslosen auf über 6 Millionen. Im Vergleich dazu gab es nur rund 12 Millionen Beschäftigte. Das Land war wegen zusammenbrechender Steuereinnahmen, fehlender Möglichkeiten, Kredite aufzunehmen usw. praktisch zahlungsunfähig, so dass nur wenig staatliche Hilfe geleistet werden konnte. Auch die Maßnahmen zur Behebung der Krise waren – jedenfalls aus heutiger Sicht – ungenügend oder bewirkten das Gegenteil.

Immerhin wurde in der Weimarer Republik versucht, durch wohnungspolitische Programme den Auswirkungen der Krise entgegenzutreten. Der Ministerialbeamte Geheimrat Stephan Poerschke formulierte die Voraussetzungen zum Siedlungsbauprogramm so:

  • Die einzelne Siedlerstelle muss sehr billig sein, um den Siedler finanziell nur wenig zu belasten – daher ist billige Landbeschaffung, billiges Baumaterial und weitestmögliche Selbsthilfe der Siedler unvermeidliches Erfordernis.
  • Die Siedlerstelle muss Erträge abwerfen, die mindestens die Verzinsung und Tilgung des investierten Kapitals gewährleisten, und darüber hinaus dem Siedler einen zusätzlichen Nahrungsmittelertrag für seine Familie abwerfen.
  • Sie darf keine speziellen Fachkenntnisse erfordern.
  • Sie sollte möglichst in leicht erreichbarer Nähe der bisherigen Wohnorte der Siedler gelegen sein.

Vom Reichsarbeitsministerium wurde ein Siedlungsprogramm im ländlichen Raum ausgearbeitet. In der Notverordnung vom 6.10.1931 legte man die

  • finanzielle Förderung durch das Reich,
  • zentrale Organisation durch einen Reichskommissar,
  • Nutzung von Siedlungsland öffentlich-rechtlicher Körperschaften,
  • persönliche Eignung und das Prinzip der Selbsthilfe der Siedler und
  • Möglichkeit der Eigentumsbildung in Siedlerhand

fest. Das Siedlungsprogramm sollte ‘aus Hauszinssteuermitteln‘ finanziert werden. Das Reich förderte mit diesem Programm eine Reihe von Vorhaben - vermutlich auch die Siedlung Am Hagen.

Es gab auch Kritik an der vorstädtischen Kleinsiedlung. So z.B. an der

  • Auswahl der Gelände, die für eine gewinnbringende Bewirtschaftung oft schlecht geeignet waren,
  • Ansiedlung am Stadtrand mit der Folge, dass die Erwerbslosen aufgrund der abgeschiedenen Lage kaum die Möglichkeit hatten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden,
  • ungünstigen Kosten-Nutzen-Relation zwischen Erschließung des Siedlungsgeländes mit dünner Besiedlung im Vergleich zu großstädtischen Mietanlagen,
  • primitiven Bauausführung der Häuser mit geringer Lebensdauer, die nicht im Einklang zu den nötigen Erschließungskosten stünden und
  • Auswahl der Siedler nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit oder früherem Beruf (z.B. bevorzugt Maurer wegen der Eigenleistungen).

Das Parteiprogramm der NSDAP enthielt kein eigenes wohnungspolitisches Programm. Man übernahm die Wohnungspolitik der Weimarer Republik mit ähnlichen Zielsetzungen. Nämlich die

  • Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit möglichst geringer Investitionsmenge,
  • ‘Sesshaftmachung‘ der Bevölkerung und
  • Ankurbelung der Bauwirtschaft.

Die Gestaltung des Siedlungsprogramms wurde dann der NS-Ideologie angepasst.

Beteiligte am Bau der Siedlung

Die Siedler

Die Siedler mussten sich bewerben und wurden vermutlich ab 1935 auf Eignung (auch die ‘erbbiologische‘) geprüft. Nach den Bildern zu schließen, die beim Bau entstanden, hat man einen bestimmten Typus bevorzugt … Sie mussten dann reguläre Verträge über den Erwerb, die Bindungen, Zahlungen usw. abschließen.

Für die Siedler war der Aufbau und der Erwerb eines eigenen Hauses auf eigenem Grund und Boden eine Riesenchance. In Hinsicht vielleicht die Erfüllung eines Traumes, jedenfalls die Möglichkeit, aus der Arbeitslosigkeit und aus den beengten Verhältnissen der Stadt herauszukommen.

Dass der Bau und die erste Entwicklungszeit mit den beschriebenen Härten verbunden waren, war gewollt oder wurde zumindest billigend in Kauf genommen. Eher positive Wirkungen, die indirekt auftraten, wie z.B. die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Siedler oder Bindung an die ‘eigene Scholle‘ waren programmatisch z.B. in Parteiprogrammen aber vorgedacht.

Es hat eine Generation gebraucht, um aus den schwierigen Verhältnissen herauszukommen. Allerdings kam auch der Krieg 'dazwischen' und unterbrach die Entwicklung.

Carl-Otto-Graf-Schimmelmann

Ehemalige Eigentümer des Geländes der Siedlung waren die Grafen Schimmelmann; ansässig in Ahrensburg seit 1759, als Heinrich Carl Schimmelmann das Gut Ahrensburg in Holstein erwarb. Dieses Gut hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine Größe von 1.560 ha (720 ha Forst und 840 ha Landwirtschaft). Für einen landwirtschaftlichen Betrieb im Grunde günstig in der Nähe Hamburgs gelegen.

Der Gutsherr Carl Otto Graf Schimmelmann hatte, um Spielschulden zu begleichen, einen Makler in Hamburg mit dem Verkauf von Ländereien beauftragt. Die Besteuerungsgrundlagen (speziell durch Aufhebung von Adelsprivilegien) änderten sich und die Weltwirtschaftskrise brachte weitere finanzielle Probleme für die Gutswirtschaft. Es wurde jedenfalls Land verkauft, die Familie zog 1934 nach Plön.

Ein Teil des verkauften Landes war das Gelände für die Siedlung: 50 ha als Siedlungsgelände und 4 ha für z.B. Straßen und Sportplatz (weitere 14 ha sind vermutlich der Siedlung ‘Waldgut Hagen’ zuzurechnen).

Der Preis betrug insgesamt 224.000 RM. Das Gelände ist als ‘preisgünstig‘ beschrieben; das ist eine Umschreibung für Bruchwald und Moor. Wer der ‘Erwerber‘ war, ist nicht ganz klar, vermutlich Hamburg, wohl unter Vermittlung des unten genannten Siedlerbundes. Problematisch mag dabei die Lage des Geländes im damaligen Preußen gewesen sein. Die Siedler bekamen aber, wie vorgesehen, eine Eintragung ins Grundbuch. Die Straßen usw. gingen ins Eigentum Ahrensburgs über.

Interessant ist noch, dass in einem damaligen Naturschutzgebiet eine Siedlung errichtet wurde (s. Abb. 'Verfügung der örtlichen Behörden zur Verbesserung der Wasserverhältnisse', in der von einem 'Naturschutzgebiet Hagen' die Rede ist). Wahrscheinlich waren nur in solchen Gebieten die angestrebten Flächen zu erhalten.

Ahrensburg

Ahrensburg war 1933 eine relativ arme Landgemeinde im Kreis Stormarn. Die Ansiedlung von einigen hundert arbeitslosen Hamburgern auf ihrem Gebiet traf den Ort völlig unvorbereitet. Es dauerte insofern einige Jahre, bis zumindest die formalen Anforderungen aus Gemeinde- und Kreisrecht in der Siedlung erfüllt wurden. Noch länger dauerte es, bis die reale Integration erfolgte.

Hamburg

Beteiligt am Bau war ganz wesentlich die Freie und Hansestadt Hamburg. Schließlich wurden arbeitslose Bürger Hamburgs für die Ansiedlung gewonnen. Die damalige hamburgische Behörde für Technik und Arbeit genehmigte 1934 Grundrisse und Baukosten im Rahmen von Angeboten. Ein Ingenieurbüro am hamburgischen Jungfernstieg (eine erste Lage) lieferte die Bauzeichnungen. Die benötigten Materialien für den Bau, die Einrichtung, das Kleinvieh wurden nach einem Pressebericht bei ‘Stahlhelmgenossen’ beschafft. Jedenfalls nicht in Ahrensburg.

Deutscher Siedlerbund e.V.

Der ‘Deutsche Siedlerbund e.V.‘ ist in Zusammenhang mit dem Bau der Siedlung eine weitere zu beachtende Organisation. Vorläufer aus 1933 waren z.B. der ‘Reichsbund der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands‘. Dessen Ziel war ‘die Förderung der Siedlungsbestrebungen gemeinnütziger Art sowie der Zusammenschluss aller Kleinsiedler‘. Das Reichsheimstättenamt erkannte den Reichsbund im Jahre 1934 als Vertretung der Kleingärtner- und Kleinsiedlerbewegung an.

1935 wurde die Nachfolgeorganisation ‘Deutscher Siedlerbund‘ vom Reichs- und Preußischen Arbeitsministerium (Minister: Franz Seldte) als einzige Organisation der deutschen Kleinsiedler erlaubt und mit der Betreuung und Wirtschaftsberatung der Kleinsiedler beauftragt.

Insofern hat der Siedlerbund eine (von den Siedlern zu bezahlende) Projektträgerschaft beim Bau der Siedlung Am Hagen ausgeübt. Regelungen, die sich aus der Betreuung durch den Siedlerbund ergaben, waren noch einige Zeit nach dem Krieg für die Siedlung und die einzelnen Siedler gültig.

Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten

Eine der Gruppen, die sich stark an der Kaiserzeit orientierten, war der ‘Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten‘, der von dem Reserveoffizier Franz Seldte 1918 gegründet wurde. In der Organisation sollte zunächst das Wirken aller Kriegsteilnehmer Anerkennung finden. Ab 1924 war er eher als paramilitärischer Wehrverband anzusehen, in dem Interessierte eine militärische Ausbildung bekommen konnten. Dies unter Infragestellung beziehungsweise Umgehung der Versailler Verträge, die z.B. der Reichswehr 100.000 Mann zustanden - der ‘Stahlhelm‘ hatte 1930 rund 500.000 Mitglieder. So wie die SA als die Schutztruppe der NSDAP galt, wurde der ‘Stahlhelm‘ als bewaffneter Arm der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angesehen. Der ‘Stahlhelm‘ stand insofern in Konkurrenz zu SA/NSDAP, vertrat aber - aus heutiger Sicht - ähnliches Gedankengut.

Der Gründer Franz Seldte trat 1933 der NSDAP bei, wurde SA-Obergruppenführer, Reichskommissar für den Freiwilligen Arbeitsdienst und Reichsarbeitsminister. Der ‘Stahlhelm‘ wurde von 1933 an der SA unterstellt und mit ihr ‘verschmolzen‘. Im Jahre 1935 wurde auch eine Nachfolgeorganisation aufgelöst.

Mit dem Namen Franz Seldte bedachte man damals in Deutschland übrigens eine Reihe von Straßen und Plätzen.

Die Rolle des ‘Stahlhelm’ für die Siedlung ist aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Die Organisation hatte wohl eine kurze Zeit eine Art ‘ideeller Trägerschaft’ für die Siedlung Am Hagen inne, jedenfalls war es keine offizielle Projektträgerschaft. Sie war zum Zeitpunkt der Gründung der Siedlung eigentlich schon in der Unterstellung in die SA begriffen - vielleicht war es eine ‘Goodwill’-Geste der NSDAP-Führung in Hamburg. Dies würde gut zum sogenannten ‘System Kaufmann’ passen, des damaligen Gauleiters in Hamburg, ein System von Bonzentum, Begünstigung einzelner Personen und persönlicher Bereicherung.

Materialien aus der Zeit

Die folgende Karte zeigt das Gebiet vor dem Bau der Siedlung - eine Art Endmoräne, zum Teil moorig, bewachsen mit Birken-Bruchwald; nicht fruchtbar genug für Äcker oder Weideland. Die 'Straßen' sind Feld- oder Forstwege.

In der Karte sind außerhalb des geplanten Siedlungsgebietes ein paar Gehöfte mit dem zugehörigen Ackerland zu sehen.

Basis Nord ist ein geodätischer Messpunkt - das eine Ende einer Meßstrecke; der zugehörige zweite Punkt liegt in Braak; dort ist noch ein entsprechend gekennzeichneter Stein zu finden. Von der so festgelegten Strecke, der 'Basis' aus, wurden vormals Teile des dänischen Reichs vermessen.

'B.W.' ist ein Bahnwärterhäuschen an der Bahnlinie Hamburg-Lübeck und der Straße ‘Brauner Hirsch’. Die Siedlungsbaustelle wurde mit Baumaterial von diesem Bahnübergang aus mit einer Feldbahn und manuell bewegten Loren versorgt.

Karte-des-Gebiets-vor-dem-Bau-der-Siedlung483-alte-Karte-1-tz

Die nächsten beiden Karten zeigen verschiedene Planungsstände des Baus der Siedlung.

Verschiedene-Planungsstände-des-Baus491-Planungsstaende-1

Das handschriftliche Datum auf dem nächsten Papier zeigt, dass eine formale Ansiedlungsgenehmigung für die Siedlung erst drei Jahre nach dem ersten Spatenstich erteilt wurde.

AnsiedlungsgenehmigungIMG_20230413_145847-tz (Quelle: Stadtarchiv Ahrensburg)

Auch die Entwässerung der Siedlung wurde erst Jahre nach der Fertigstellung des größten Teils der Siedlung geregelt. Interessant auch, dass der Träger der Siedlung, die 'Heimstätte Schleswig-Holstein' und deren zuständige Zweigstelle, ihren Sitz in Hamburg in der Mönckebergstraße hatte.

Verfügung-der-örtlichen-Behörden-zur-Verbesserung-der-WasserverhältnisseIMG_20230413_144630-tz (Quelle: Stadtarchiv Ahrensburg)

Voraussetzungen für die Siedler

Die Siedler mussten sich beim Reichsheimstättenamt bewerben, um einen Eignungsschein als Siedler zu erhalten, dann einen Antrag bei einer hamburgischen Behörde auf Zulassung stellen, um in die Siedlerliste aufgenommen zu werden. Man beachte, dass der folgende Eignungsschein 1937 ausgestellt wurde, also das Prozedere für die 'Erstsiedler' noch nicht galt - die 'Nürnberger Rassegesetze' wurden erst 1935 erlassen.

Eignungsschein-für-Siedler402-IMG-20230413-141731-1-tz (Quelle: Stadtarchiv Ahrensburg)

401-IMG-20230413-141718-1-tz (Quelle: Stadtarchiv Ahrensburg)

Annahme-als-Siedler319-P1002134-1-tz

Der Siedler kaufte dann von der 'Heimstätte' ein Grundstück mitsamt dem Gebäude, den weiteren Materialien und Leistungen (s. unten). Das Grundstück wurde dann 'Reichsheimstätte', das heißt, der normale Verkauf usw. durch den Siedler war lange Zeit blockiert.

Vertrag-zwischen-'Heimstätte'-und-Siedler65-Vertrag

Kosten

Das folgende Blatt zeigt die Kosten für das Haus, Einrichtung, sonstige Leistungen usw.; insgesamt 3.170 Reichsmark (RM). Für den Ausbau des oberen Geschosses, z.B. für kinderreiche Familien stieg der Preis bis auf 5.200 RM.

493-Kosten-1

Der Umrechnungskurs der Reichsmark zum Euro schwankte im Laufe der Jahre; er dürfte, bezogen auf die Kaufkraft, zwischen einer Reichsmark = 3,30 Euro bis 4,00 Euro gelegen haben.

Nach Fertigstellung war das Haus mit 20-25 RM / Monat zuzüglich weiterer Belastungen wie Versicherungen, Kaminkehrer usw. abzubezahlen. Theoretisch wäre nach rund 13-15 Jahren alles abbezahlt - praktisch konnten die Siedler die Raten oftmals nicht aufbringen. Das war für die meisten Siedlerfamilien ein großes Problem, das sich im Krieg durch Einberufung der Familienvorstände als Soldat noch verschärfte. Allerdings konnten nach dem Krieg vielerorts Siedlerdarlehen in RM zu einem günstigen Kurs mit DM abgegolten werden, ob es hier auch möglich war, ist nicht bekannt.

Aufgewendet wurden für den Bau der ganzen Siedlung ganz überschlägig rd. 990.000 RM Baukosten (220 Gebäude x rd. 4.500 RM) + 224.000 RM Geländekaufpreis + 154.000 RM Tagespauschale (440 RM / Tag x 350 Tage) = 1.368.000 RM. Vollständig ist diese Kostenzusammenstellung nicht, z.B. fehlen die Darlehens- (vermutlich Reichsdarlehen) und Intendanzkosten in der hamburgischen Behörde. Aber ‘billig’ - wie oben gefordert - war der Neubau eines Stadtteils für vielleicht 1.500 Menschen mit Kosten in der Größenordnung von 1,5 Mio. RM schon.